Mit Rebsorten ist es so eine Sache. Nicht alle sind nämlich wirklich das, was sie lange zu sein vorgaben. Moderne Wissenschaft führt überall zu neuen Erkenntnissen und in manchen Weinbauregionen zu Verwirrungen oder gar offenem Protest.
Es war einmal, beginnen die Märchen der Gebrüder Grimm und führen nach allerlei Irrungen zu einem guten Ende. Doch als sich im Elsass herumsprach, dass eine der berühmtesten Rebsorten der Region lange unter falscher Flagge gesegelt war und eine märchenhafte Herkunft aufwies, wurde den Einheimischen mulmig.
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Geahnt oder gewusst hatten es die elsässischen Winzer freilich schon länger, denn bei aufmerksamer Beobachtung muss irgendwann klargeworden sein, dass die angeblichen Tokayer-Reben anders aussahen als die im ungarischen Tokaj gebräulichen. Schon 1971 war in frankreichs östlicher Weinbauregion deshalb der Name Pinot gris zugelassen worden, ab 1984 verbot man den Begriff Tokay d’Alsace ganz – die Ungarn hatten sich erfolgreich in Brüssel beschwert.
Mit dem Beschluss der Europäischen Kommission wurde die Jahrhunderte gepflegte Rebsortenlegende auch offiziell zu Grabe getragen. Jene des Reichsfreiherrn Lazarus von Schwendi, der ab dem späten 16. Jahrhundert im Elsass lebte und den Weinbau förderte. Weil der Mann zuvor als Feldherr in Ungarn gekämpft hatte, schien es logisch, dass er dortige Rebstöcke mitbringen konnte.
Das Märchen vom Tokayer, der nun auch im Elsass gedieh, nahm Fahrt auf und ging den Winzern in Fleisch und Blut über. Als nach einer 2007 abgelaufenen Übergangsfrist nur noch die korrekte Bezeichnung Pinot gris (Grauburgunder) erlaubt war, brach für manche Traditionalisten zwischen Colmar und Mulhouse eine Welt zusammen. Alle Proteste nützten am Ende nichts: Die Wahrheit setzte sich durch.
Kein Silvaner im Riesling x Sylvaner
Während im Falle Schwendis nicht mehr geklärt werden kann, ob der Mann zwischen Budapest und Strassburg einfach mal ein paar Reben eingesammelt und sie ohne Skrupel unter falschem Namen angepriesen oder sich selbst geirrt hat, sind die Rätsel in der Schweiz gelöst.
Die Eidgenossen kaprizierten sich ab Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Anbau einer Sorte, die in Deutschland als Müller-Thurgau bekannt wurde, zwischen Basel und St. Gallen aber meist als Riesling x Sylvaner angepflanzt wurde. Daran änderte sich zunächst auch nichts, als 1957 erstmals Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit drangen, die den Kreuzungspartner Sylvaner/Silvaner ausschlossen.
Skeptiker fühlten sich bestätigt, denn schon Züchter Hermann Müller war sich nicht ganz sicher gewesen, ob seine Eintragungen der Wahrheit entsprachen. Als schliesslich herauskam, dass Riesling und Madeleine Royale die Eltern des Müller-Thurgau waren, wussten die Schweizer nicht recht weiter und ersannen halbherzige Lösungen.
Einige Winzer schreiben nun Müller-Thurgau aufs Label, andere optieren für die korrekte, aber wenig bekannte Variante Riesling x Madeleine Royale, während etliche ganz legal Riesling-Sylvaner nutzen, allerdings ohne das eine Kreuzung andeutende «x». Missverständnisse sind programmiert.
Zinfandel oder Primitivo? Die Spur führt nach Kroatien!
Apropos Missverständnisse. Die können auch in Übersee erstaunlich langlebig sein. So wie beim Zinfandel, einer der beliebtesten Rotweinsorten Kaliforniens. Über den merkwürdigen Namen machten sich schon die Winzer des 19. Jahrhunderts Gedanken, denn in Europa existierte nichts ähnlich Klingendes im roten Bereich. Erst nach und nach fand man heraus, dass es sich um eine falsche Lieferung gehandelt haben muss.
Irgendein mit der Beladung der Schiffe beauftragter Arbeiter dürfte um 1825 die Etiketten vertauscht haben – und so wurde aus einem Bündel Setzlinge der in Österreich verbreiteten weissen Sorte Zierfandler eben der rote Zinfandel.
Mehr als 100 Jahre später stellte man Ähnlichkeiten mit der in Süditalien wachsenden Sorte Primitivo fest und entdeckte schliesslich, dass der Ursprung in Osteuropa lag. Crljenak kaštelanski oder Tribidrag nennt sie sich in Kroatien, ist nicht hundertprozentig identisch mit Zinfandel, aber fast.
Alte Sorten und neue Fehlerbehebung
Egal ob Merlot (eine Kreuzung aus Cabernet Franc und Madeleine Noire des Charentes, wie man heute weiss) oder Riesling – die Anzahl der neuen Erkenntnisse ist enorm. Immer wieder entdecken Rebsortenforscher, wie der Schweizer José Vouillamoz, Hinweise auf bislang unbekannte Abstammungen, Herkünfte und Verwandtschaften.
Deutschlands berühmteste Sorte, der Riesling, lange als Wildling aus dem Rheintal apostrophiert, ist in Wirklichkeit eine Kreuzung aus Heunisch und dem Abkömmling einer unbekannten Rebe mit Traminer – was die bisweilen ja deutlich würzigen Aromen erklärt. Roter Riesling wiederum scheint doch nicht die Urform des Rieslings, sondern eine Mutation zu sein.
Und wer den Chasselas-Ursprung anhand veralteter Lehrbücher in Ägypten verortete, läge inzwischen falsch, denn die in der Schweiz extrem beliebte Sorte hat ihren Ursprung vermutlich am Genfer See, also genau dort, wo sie noch heute höchsten Ruhm geniesst.
Unlängst musste sogar die Staatliche Forschungsanstalt im württembergischen Weinsberg zugeben, dass das bei der Auspflanzung in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts geschludert worden war. Cabernet Dorsa etwa hatte man hier einst als Abkömmling von Cabernet Sauvignon und Dornfelder präsentiert und entsprechend benannt; inzwischen stellte sich heraus, dass gar nicht Cabernet beteiligt war, sondern Blaufränkisch, in Deutschland auch Lemberger genannt.
Veröffentlicht wurde die Korrektur sehr wohl, doch an eine Umbenennung denkt keiner. Stimmt ja auch, denn man sollte es nicht übertreiben mit der politischen Korrektheit – schon gar nicht bei den Rebsorten. Zumal sich die Geschichte ja doch noch zum Guten wenden kann.
Die Elsässer sind nämlich inzwischen glücklich mit ihrem Pinot gris, kaum einer trauert dem Tokayer nach. Mehr noch: Weil das Vorbild Ungarn weggefallen ist, wirken die Weine schlanker und feiner als je zuvor. Was ein neuer Name doch ausmachen kann!